02.06.2016

Tamagotchi

Tamagotchi - Wort des Tages- EVS Translations
Tamagotchi – Wort des Tages- EVS Translations

Bei Japan denkt man möglicherweise an Geishas und grünen Tee. Vielleicht auch an Ninja und Samurai, obwohl es sie längst nicht mehr gibt. Aber das Faszinierende an Japan ist die Kombination aus beidem, Tradition und Moderne. Japan ist sowohl futuristisch als auch traditionell, und das ist verblüffend.

Und gelegentlich stößt man auf ein skurriles Beispiel hierfür. Was könnte skurriler sein als die Verliebtheit der Japaner in alles Virtuelle?

Das Tamagotchi war in Japan ein Kinderspielzeug, das irgendwann aus den Schulen verbannt wurde. Es handelte sich um ein digitales Spielzeugtier, das in den 1990iger Jahren auf den Markt kam. Ein kleines, tragbares Kunststoffei (die wörtliche Übersetzung für Tamagotchi lautet ‚Eieruhr‘) mit einem Bildschirm, in dem ein ‚Haustier‘ wohnte. In echt japanischem Stil verlangte dieses digitale Haustier die strikte Einhaltung bestimmter Pflege- und Versorgungsmaßnahmen – Spielen ist schließlich eine ernste Angelegenheit. Wurden seine Bedürfnisse nicht konsequent erfüllt (um es zu füttern, ihm Medizin zu geben usw. musste man bestimmte Tasten drücken), starb es. Eigentlich ganz einfach. Nun möchte niemand ein Kind mit einem toten Haustier in der Hand sehen – das Kind wird darüber nicht besonders glücklich sein. Und so saßen Tausende Schulkinder in ihren Klassenräumen und fütterten ihre Haustiere, pflegten sie, führten sie virtuell Gassi. Am Ende hatten Lehrer und Eltern genug davon – keiner konzentrierte sich mehr auf den Unterricht, und warum entwickelten diese Kinder eine emotionale Beziehung zu etwas, das es nur in der virtuellen Welt gab?! Bandai – der Erfinder des Tamagotchi – gab schließlich nach … und baute einen Pausenmodus ein. In den Schulen herrschte wieder Normalität und die Kinder konnten jetzt auch etwas über echte zwischenmenschliche Beziehungen lernen.

Die Tamagotchi-Welle schwappte dann auch in andere Länder. Das Wort Tamagotchi erschien erstmalig 1997 in der englischen Drucksprache, und zwar in Kanada, im Toronto Star: „Das Tamagocchi beginnt sein Leben als reizendes, vogelähnliches Bild auf dem Bildschirm eines eiförmigen Schlüsselanhängers.“ Im selben Jahr tauchte das Tamagotchi erneut auf, dieses Mal mit einer Geschichte im englischen Mirror. Hier wurde berichtet, dass die „Cyber-Haustier-Besitzerin Kelly Boyd es geschafft hatte, ihr Tamagotchi rekordverdächtige 69 Tage am Leben zu halten”.

Tamagotchi – Spiel oder Sucht?

Man entwickelte weitere Funktionen, und das Tamagotchi wurde mehr und mehr zur Sucht –man konnte mit anderen „Spielern“ ein Team bilden, die Haustiere konnten sich ineinander verlieben. Sie konnten Babies miteinander zeugen (die Grafik für dieses Szenario wurde zum Glück nie entwickelt). O ja, die Japaner liebten ihre Tamagotchis sehr.

Und sie lieben alles Virtuelle…

In Akihabara, Tokio, kann man eintauchen in die Welt von Anime (Animationsfilme), Manga (Comics) und andere virtuelle Welten. Dieser Bezirk ist das Reich der Computerfreaks, wo sie sich, zumindest zeitweise, aus der realen Welt zurückziehen können. Hier konnten Männer das Nintendo-Spiel Love Plus erwerben – man konnte sich eine virtuelle Freundin zulegen, die immer da war, wenn man sie brauchte…anders als die eigene Ehefrau, die immer nur herumnörgelt und bestimmte Erwartungen an ihren Mann hat. 2013 zeigte die BBC eine Dokumentation über zwei Japaner mittleren Alters, die angaben, ihre virtuelle Freundin von Love Plus zu lieben und eine ernsthafte Beziehung mit ihr zu führen. Die Geschichte ist einerseits natürlich sehr unterhaltsam – man amüsiert sich köstlich über die Absurditäten, die diese beiden von sich geben. Trotzdem zeigte die Dokumentation deutlich, dass die Welt, in der diese beiden Männer lebten, tatsächlich symptomatisch für ein größeres Problem der Japaner ist: lange Arbeitstage der Männer, düstere wirtschaftliche Aussichten für die jüngere Generation, und vielleicht eine Kultur, der es nicht viel bedeutet, Gedanken und Gefühle mit anderen zu teilen.

Vielleicht besaßen diese Männer in jungen Jahren ja ein Tamagotchi?

Beim Tamagotchi kann das Spiel einfach neu gestartet werden, wenn das Haustier stirbt (obwohl natürlich niemand die hingebungsvolle Zuwendung der Japaner in Frage stellen möchte). Aber das Dilemma der beiden Männer mit ihren virtuellen Freundinnen kann durch einen ‚Neustart‘ wahrscheinlich nicht gelöst werden.